Jedem süßen Schluck folgt der bittere Nachgeschmack. Und dann die alles versalzende Meeresluft. Doch jeder auf dieser schwankenden Holzinsel erträgt es, genießt es, manches Mal, fast. Wenn sie sitzen, auf dem Deck, unter dem höhnenden, himmlischen Blau; und saufend davondrängen durch den Spott der glattspiegelnden Weite … – nach vier Monaten auf See ist eben alles Paradiesische schal geworden: Das Farbenspiel der Morgen- und Abendsonne; das Funkelall der Nacht; die Ruhe, die Ferne, die Ungebundenheit – selbst der wildeste Sturm zahm durch die Gewohnheit … da bleibt nur noch das abendliche Kartenspiel, das ihnen ein letztes bisschen Lebendigkeit erfindet: Wenn die gesetzten Taler knapp werden; wenn sie johlen und jaulen, so gemeinsam, über den Kuss oder Hass der Schicksalsgöttin; und dabei vergessen können, wie viel Rum bereits geflossen, wie eintönig und einsam sie sind: Dann erstehen sie auf, für wenige Augenblicke, am Ende jedes Tages.
Carsten war Schustersohn. Früh ohne Mutter, und später, als Lehrling, als junger Mann, der dem Ruf seiner Stammväter um jeden Preis gerecht werden wollte: Ohne Vater. Zu Tode gesoffen. Seine Mutter lebte noch, wahrscheinlich, irgendwo. Hatte sich nur davongestohlen – da konnte Carsten gerade sprechen. Mit zwölf also war er ganz elternlos; ein kaum gelernter Schuhmacher, und vor ihm die Bürde des generationenalten Betriebs – von Sagan. In der ganzen Lüneburger Gegend – ach: In allen Kurfürstentümern kannte man diesen Namen. Und er war der letzte. Also musste er. Hatte geglaubt zu müssen – vierzig Jahre lang. Vierzig Jahre lang schuften, bis der Punkt erreicht war. Bis er verstanden hatte, dass seine Vorfahren nichts von ihm erwarteten. Gar nichts von ihm erwarten konnten! Dass ihn bloß die eigenen Erwartungen getrieben hatten – bloße Gespenster der Vergangenheit, hatte er damals gedacht und die Tür der Werkstatt zugeschmettert, war ins Haus nebenan gestürmt – vier Jahrzehnte! „Jahrzehnte!“, hatte er zwischen den Zähnen hervorgepresst, wurde von der Wut gepackt und zerschlug das ganze Wohnzimmer. Und wie viel er da getrunken hatte, in dieser Nacht … ins Feuer gestarrt … bis die Tränen rannen – und da hatte er es gesehen, vor sich: Ein Schiff. Ein Schiff, das durch die Flammen davondrängte – und ihn brauchte! Ihn wollte es – fortbringen! Im selben Augenblick hatte er seine Sachen gepackt und war aufgebrochen nach Hamburg, ohne Halt zu machen. Neun Stunden. Oder achtzig Knoten, wie er heute wusste.
Carsten setzte die Flasche an die Lippen. Was sein Vater heute wohl von ihm denken würde? Er schnaubte, und blickte in seine Karten. Das Seemann-Dasein war besser. Unendlich besser. Hier, wenigstens, waren andere, wie Brüder, fast … wie ein Familienbetrieb: Jeden Tag aßen sie zusammen; tranken zusammen; schliefen, arbeiteten, spielten – nur zusammen an Land gingen sie nicht: Denn er hatte sich geschworen, das Schiff nie wieder zu verlassen. Wenn die anderen in die Hafenschenken stürzten, um Schnaps und Fleisch und Frauen zu verschlingen, blieb er zurück, hielt Wache; seit Anbeginn der Reise schon. Und wie sie sich lustig gemacht hatten über ihn. „Schließt schön eure Kajüten ab, Jungs; sonst sucht sich der von Sagan noch ‘nen Schatz für seinen Aal!“ – Irgendwann hatten sie es hingenommen. Und hätten sie gesehen, was er in den Flammen gesehen hatte … das Schiff brauchte ihn. Immer. So wie er es brauchte.
Carsten warf seine Karten in die Mitte und stand auf. „Bin raus“, murmelte er, griff den Rum und ging unter Gejohle zur Reling. Die Nacht war angebrochen. Und das namibische Festland nicht weit. Das dahinten musste sie sein, die Angra Pequena; die Hafenbucht, in der sie heute ankern würden – seine Hände wurden schwitzig.
„Du bleibst wieder?“
Carsten blickte zu dem Bullen von einem Mann; ein Böhme namens Jakob, den alle aber den Schwermatrosen nannten – er war es gewesen, der ihn vor einigen Wochen beinah umgebracht hätte, aus Jux. Während seines Wachdienstes in Essaouira, einem Hafen Marokkos, war Carsten eingenickt, so alleine auf dem Deck – und plötzlich mit einer Explosion von Schmerz am Kopf in die Wachheit gerissen worden: Vor eine lachende, grölende Mannschaft. Fast blind, und alles voller Blut – der Schwermatrose hatte einen der massiven Holzpfeiler aus dem Meeresboden gerissen und einfach geworfen. Die Wunde verheilte heute noch. Und den Kopfschmerz … ertrank er.
„Wie kommt’s eigentlich, dass“
„Lass gut sein“, brummte Carsten, nahm einen großen Schluck und sah zur Bucht. Viele dunkle Hütten. Warmes Licht schien aus den kleinen Fenstern; auf den Stegen reges Treiben schwarzer Menschen. Überall Handel, Rufe, Lachen; fremde Sprachen; Möwenkrächzen und Fischgeruch. Und im Himmel die ersten Sterne – der Anker sank.
Mit schweren Schritten über die Holzplanke taumelte die Mannschaft in Richtung Schenke; als letzter Kapitän Sachs, der ihm, wie immer, noch eine Flasche Rum in die Hand gedrückt hatte. Carsten holte die Planke ein; saß, trank und schaute. Zu dem fröhlichen Fischer, der gerade eine Münze bekam von einer – er schluckte und blickte fort. Zum finsternden Meer. Trank. Starrte hoch zu den Sternen. Wieder und wieder glänzten feinste Schweife auf und schwanden – „Da musst du dir was wünschen!“, hatte sein Vater mal gesagt. – Oder seine Mutter? – Wieder setzte er die Flasche an und saugte den süßen, bitteren, brennenden –
„Ongaipi.“
Carsten stellte den Rum ab. Sah zum Steg: Sein Herz raste: Geschwungen dunkle Augen. Volle Lippen, breite Nase; ein ausgeprägter Kiefer über einem schlanken Hals; das Haar in tonfarbenen Flechten. Sein Blick wollte hinabwandern, aber – er wagte es nicht. Diese wunderschöne schwarze Frau stand einfach da, halbnackt, und schaute ihn an. Seine Trunkenheit war verschwunden.
„Ongaipi.“
„Versteh dich nicht.“.
„Owandja peni?“
„Ich versteh dich nicht!“, sagte er lauter; aber sie lächelte nur. Lächelte, winkte ihn zu sich; er rührte sich nicht. Sie schüttelte fragend den Kopf, hielt inne; zeigte auf sich und aufs Schiff; auf sich und aufs Schiff zeigte sie mit feurigen Augen und himmlisch schönstem Lächeln – und Carsten starrte bloß, eisern. Gott, wie schön sie war … viel zu schön und viel zu –
„Hau ab!“, bellte er plötzlich, „Los! Hau ab! Verschwinde! VERSCHWINDE!“, schrie er, wollte die Flasche nach ihr werfen, stieß sie beim Greifen um, fasste sie hektisch und holte aus – doch da stand niemand mehr. Niemand. Und er prustete. Kicherte. Kicherte, lachte, und kippte. Und kippte.
Tagelang noch wird sie, eine Verstoßene der Ovahimba, an ihn denken; sich wieder und wieder seine ehrliche Bewunderung vor Augen führen; die Blöße in seinem lustvollen Blick; seine reine Hingabe in diesem einen Moment; und wie aus seiner Angst dann der weiße Zorn gestiegen war – sie kichert, wenn sie sich daran erinnert. Und wie sie ihn liebt! Diesen einsamen, heruntergekommenen Fremden – der ihre Seele streichelt mit jedem Gedanke an sie; sie erneut erblühen lässt, mehr und mehr – während er sich dadurch zu Tode trinkt.