Dies ist die Geschichte eines Käfers. Wie alle Käfer wurde auch er geboren und mit der Zeit ein bisschen größer, bis er ausgewachsen war. In seiner Käferkolonie gehörte er wohl zu den Nomaden, denn schon bald sollte er seine Familie verlassen, um durch die Welt zu krabbeln und manchmal sogar zu fliegen. Fliegen aber war – mit dem Öffnen und Offenhalten seines Rückenpanzers – mit größter Anstrengung verbunden. So flog er nur in den allernotwendigsten Situationen.
Eines Tages fand er sich an einer grauen Häuserwand wieder. Ein Paradies aus Rillen, Furchen und Löcher. Wer wäre da nicht in Allesmögliche hineingekrabbelt? So kam es, dass eines dieser Löcher sich als Tunnelchen entlarvte. Er krabbelte vor und tiefer in das enge Schwarz, bis er plötzlich eine ganz andere Temperatur wahrnahm: es fühlte sich wärmer und auch sicherer an. Er kroch vor und blickte: in ein weißes Zimmer mit vielen, vielen Dingen. Alles wollte er erblicken, denn – so viel unterschiedlich Geformtes, das hatte er ja noch nie gesehen! Er rückte ein wenig vor, wollte auch das Unter-sich beobachten, da verlor er den halt und stürzte, fiel – und patschte leise auf ein weißes, hölzernes Fensterbrett! Aber nichts war ihm passiert. Kein Beinchen gebrochen, keine Gehirnchenerschütterung; und so krabbelte er munter weiter.
Ein Junge aber saß vor eben diesem Fensterbrett und war beim leisen Aufpatscher erschrickt. Er beobachtete den Käfer und dachte sich: In meiner Wohnung, ein Käfer? Wo zur Hölle kommt der denn her?
Sogleich nahm er ein Blatt Papier, hielt es dem Käfer hin und wollte mit ihm zum offenen, zweiten Fenster – doch der Käfer krabbelte hinauf, der Junge stand auf, machte einen Schritt, der Käfer krabbelte wie wild, zum Rand des Blatts – und stürzte erneut – der Junge konnte ihn nirgendwo finden. Nicht auf dem Boden, nicht hinter oder unter der Gitarre – nein. Der Junge blickte durch das Gitarrenloch und verharrte in Ungläubigkeit. Wie stehen die Chancen!, dachte er. Er griff seine Gitarre, legte sie auf den Boden und musterte den darin ruhenden Käfer. Er harrte auf dem Korpusboden, der durch das Gitarrenloch Licht fing. Wie bekomme ich den jetzt da raus?, dachte der Junge, hob die Gitarre, dreht sie um und klopfte. Aber der Käfer wollte nicht hinausfallen. Wieder legte der Junge das Instrument auf den Boden, ging zu seinem Zeichenpult, nahm aus dem Glas mit Pinseln einen flachen der Größe 4, ging zurück und kniete sich vor die Gitarre.
Doch jetzt begann für den Käfer ein Kampf ums Überleben – denn dieses dumme Geschöpf verstand nicht, dass der Junge ihn nur auf die haarige Pinselspitze locken wollte, um ihn nach draußen zu bringen – und so rannte der Käfer um sein Leben. Minutenlang wurde ihm – egal, welchen Weg er einschlug – etwas Haariges, viel größeres als er, vorgehalten. Er wich aus und aus, wurde hin und her geschubst, krabbelte, eilte – bitte nicht über das Holz, dann bekommt ich dich nie wieder raus!, dachte der Junge. Und doch! Er war hinaufgekrabbelt. Erschöpft lag der Käfer auf der kleinen Holzwand im hinteren Teil des Gitarrenbauches. Er atmete wohl schwer. Und jetzt?, dachte der Junge. Wieder hob er die Gitarre, drehte sie um, schüttelte sie, klopfte, spielte sogar laute Akkorde, doch: kein Käfer. Der Junge stellte die Gitarre in den Ständer, setzte sich und musterte sie. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Ich habe einen Käfer in meiner Gitarre. Ihm kroch es den Nacken hinauf. Wenn er bei einer Probe hinausgekrochen käme – es war ein widerlicher Gedanke. Und trotzdem blieb der Junge fasziniert. Dann entschloss der Junge, den Käfer zu lassen. Wenn er aus der Gitarre kriechen sollte, dann sollte es so sein; und wenn nicht – wie lange lebten Käfer überhaupt? Wie würde er überleben in so einem staubigen und leblosen Innenleben einer fünfzehn Jahre alten Gitarre?
Der Junge arbeitete weiter an seinem Computer, mit unterbrechenden Blicken zur Gitarre; nach einer Viertelstunde aber hörte er mit diesen Blicken auf. Er hatte eben jetzt einen Käfer in seinem Instrument.
Der Tag verging, und auch die erste Nacht. Schon am nächsten Morgen schaute der Junge auf die Gitarre und anschließend durch seine Wohnung, ob der Käfer hinausgekrabbelt wäre – fand aber nichts. Auch nicht bei seinen zwei Kakteen oder dem Philodendron. Der Käfer war wohl noch dort. Er blickte durch das Gitarrenloch, fand ihn aber nicht. Der Tag verging, der Käfer blieb. Die nächste Nacht folgte und noch zwei weitere Tage und Nächte. Dann, am Morgen, der Junge erwachte sehr früh, sah er es bereits von seinem Hochbett aus. Er stieg die knarzende Leiter hinab, von Trauer ergriffen. Da, auf dem Boden, einen halben Meter vor dem zweiten, geschlossenen Fenster entfernt, da lag der Käfer.
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